Sonntag, 1. Februar 2009

Leonardo da Vinci: Hersteller des Turiner Grabtuches?

Gisela Ermel
In: Magazin2000plus, Nr. 2/236, Sonderheft "Alte Kulturen", Marktoberdorf 2007

Seit über hundert Jahren präsentieren Forscher, Gelehrte und Wissenschaftler verschiedenster Sparten Hypothesen darüber, wie das zarte sepiafarbene Bild eines Mannes - einmal von vorne und einmal von hinten gesehen, Kopf an Kopf übereinander - auf dem über vier Meter langen Leinentuch entstanden sein könnte, das als Turiner Grabtuch weltberühmt wurde. Einige dieser Hypothesen basieren auf seriöser Wissenschaft, während andere auf purer Spekulation beruhen. Immer wieder wird in den Medien ein Bild auf Leinenstoff präsentiert und behauptet, das Körperbild auf dem Turiner Grabtuch nachgebildet und damit die Reliquie als Fälschung entlarvt zu haben, die in kirchlichen Kreisen als echtes Grabtuch Christi gelte.

Leonardo da Vinci, Selbstportrait von ca. 1512

Eine dieser Hypothesen lautet, dass der geniale Künstler, Erfinder und Naturforscher Leonardo da Vinci (1452 - 1519) der Hersteller des Turiner Grabtuches sei. Das ist an sich eine sensationelle Idee, die sich entsprechend schnell und weit per Medien und Internet verbreitete und Leonardo da Vinci als eine Art Kujau des Mittelalters in die Debatten um die Entstehung des zarten Körperbildes einführte.

Die Idee, dass ein Künstler der Hersteller des Turiner Grabtuches sei, ist nicht neu. Immer wieder in der Geschichte dieser rätselhaften Reliquie war erwogen worden, ob das Bild ein Gemälde sei, ein Abdruck oder eine Versengung durch eine heisse Statue. Doch das Turiner Grabtuch ist nicht nur einer der umstrittensten, sondern auch einer der meisterforschtesten Gegenstände aller Zeiten. Die Ergebnisse von jahrzehntelangen Untersuchungen mittels Photomikroskopie, chemischer Analysen, Massenspektrometrie und zahlreicher weiterer Forschungsmethoden zeigen ganz klar, dass das Körperbild weder durch Farbmaterial, noch durch Puder, noch durch eine Versengung, noch durch eine Mischung der Dämpfe aus Körperschweiss plus Begräbnisspezereien entstanden sein kann. Konnte Leonardo da Vinci das Bild auf dem Tuch mittels einer Camera obscura hergestellt haben? Ist das Körperbild auf dem Leinenstoff ein Foto - das erste Foto der Geschichte?

Der Stoff
Da wäre zunächst einmal der Leinenstoff. Es handelt sich um ein Gewebe aus gesponnenen Flachsfasern. Gewebt wurde es in einer 3 : 1-Bildung, die ein sog. Fischgrätmuster ergibt. Insgesamt misst das Tuch 4,36 mal 1,10 m inklusive eines angenähten Seitenstreifens. Konnte Leonardo einen solchen Stoff erwerben oder herstellen lassen?


Das Gewebe des Turiner Grabtuches

Unter den Grabtuchforschern gibt es eine ganze Reihe von Textilexperten, die das Gewebe gründlich untersucht haben. Diese Untersuchungen ergaben:
  • Die Leinenfäden für diesen Stoff wurden auf eine Weise gesponnen, die zu Leonardo's Zeiten bereits "out" war: per Hand auf einer Spindel, während man in Europa bereits seit Ende des 13. Jh. per Spinnrad arbeitete
  • Die Leinenfäden wurden auf eine Weise gebleicht, wie sie im Nahen Osten mit minimalen Unterschieden nur bis zum Ende des 13. Jh. in Gebrauch war. Chemische Analysen von Grabtuch-Fasern liessen auf eine sehr schwache Bleichtechnik schliessen, die übereinstimmt mit den Methoden, die Plinius d.Ä. 77 n.Chr. beschrieb. Wenn die Spindel voll war, machte man ein Bündel fertiger Fäden. Diese Bündel wurden separat gebleicht, so dass die Endfarbe nicht immer gleich ausfiel. Das kann man noch heute sehen an den leichten Farbunterschieden verschiedener Webregionen des Tuches. Zu Leonardo's Zeiten waren längst bessere Bleichmethoden entwickelt worden, die ein weisseres und gleichmässiger gefärbtes Material ergaben.

Gewebe des Turiner Grabtuche mit verschieden stark gebleichten Fäden
  • Der Stoff des Turiner Grabtuches wurde sehr wahrscheinlich auf einem syrischen oder ägyptischen Webrahmen hergestellt. Das fertige Gewebe wurde mit Seifenkraut und Wasser gewaschen und dann im Freien über Büschen hängend getrocknet, so wie es den von Plinius d.Ä. beschriebenen Verfahren entspricht.
  • Das Argument, das Fischgrätmuster sei eine moderne Webmethode, ist falsch. Dieses Muster haben z.B. bereits zweitausend Jahre alte Tücher aus Ägypten.

Hätte Leonardo ein solches Tuch nach alten Methoden herstellen lassen können? Oder ist der Stoff älter?

1988 wurden Stoffproben des Grabtuches in drei verschiedenen Laboratorien einer Radiokarbon-Altersbestimmung unterzogen. Das Ergebnis verblüffte Kirchenleute, Fachleute und Laien gleichermassen: hergestellt zwischen 1260 - 1390. Verschiedene Textilexperten konnten inzwischen jedoch belegen, dass das Stoffstück, das für die Proben abgeschnitten und für die Labors zerteilt worden war, von einer denkbar ungeeigneten Stelle stammt, weil sich dort eine mittelalterliche Ausbesserung mit Fremdmaterial befindet. Die für ein untrainiertes Auge unsichtbare Stopfstelle zieht sich quer mit schrägem Verlauf direkt über die Stoffprobe, die an die Labors verteilt wurde. Dadurch bekam jedes Labor eine verschieden grosse Kombination aus Original- und jüngerem Stopfmaterial. Das erklärt auch die unterschiedlichen Messwerte; bekannt gegeben wurde nur der gemeinsame Mittelwert.

Remi van Haelst, ein belgischer Chemiker, unternahm eine statistische Analyse der kompletten Messwerte und konnte nachweisen, dass das Ergebnis um so älter ausfiel, je geringer der Anteil an fremdem Stopfmaterial der Probe war. Der Chemiker Ray Rogers konnte darüberhinaus nachweisen, dass der Gehalt an Vanillin in der chemischen Zusammensetzung der Leinenzellulose bei Proben, die 1973 und 1978 von verschiedenen Zonen des Tuches entnommen worden waren - sowohl aus Körperbildzonen als aus solchen ohne Bildspuren - viel geringer war, als bei den Radiokarbonproben. Je weniger Vanillin - je älter das Leinen; in Originalfasern z.B. aus Bildspurzonen war praktisch kein Vanillin mehr vorhanden, so wie in Vergleichsproben von Stoffresten aus dem 1. Jahrhundert, deren Alter Archäologen kannten. Der Stoff des Turiner Grabtuches stammt eindeutig nicht aus Leonardos Zeit und ist viel älter. Leonardo hätte also einen alten Stoff erwerben müssen.

Das Bild


Das Turiner Grabtuch in voller Länge

Doch wie steht es mit dem Körperbild? Leonardo habe es, so wurde wiederholt behauptet, per Camera obscura hergestellt, es sei ein Foto. Leonardo sei genial genug gewesen, so die Befürworter dieser Hypothese, eine frühe Form der Fotografie zu erfinden und anzuwenden.

Eine Camera obscura wird schon erwähnt von Schriftstellern der Antike. Ob griechisch-römische Künstler sie bei ihrer Arbeit einsetzten, ist nicht bekannt. Erst als man die antiken Schriften in der Renaissancezeit übersetzte, wurde die Camera obscura "wiederentdeckt" und für künstlerische Zwecke eingesetzt als Hilfmittel beim Zeichnen. Leonardo da Vinci beschrieb eine solche Camera obscura in seinen Notizen - doch setzte er sie ein als primitiven Fotoapparat?

Seine Camera obscura hätte eine Linse haben müssen. Zu seiner Zeit wurden bereits bikonvexe Linsen für Augengläser hergestellt. Doch die Technik des Polierens einer Linse der Güte, wie sie für eine Camera obscura und ein scharfes Bild durch die Bündelung von Lichtstrahlen nötig gewesen wäre, soll erst Giovanni Battista della Porta im 16. Jahrundert eingeführt haben. Die Theorie der Bildentstehung mittels Linsen wurde jedoch das erste Mal durch Isaac Newton und Renée Descartes im 17. Jahrhundert erforscht und teilweise durch Carl Friedrich Gauss im 19. Jahrhundert, der als erster die Idee der Brennweite einführte. Leonardo hätte also etliche spätere Entdeckungen und Erfindungen vorwegnehmen müssen, ohne dies bekannt zu machen oder schriftlich niederzulegen, ganz seiner Art widersprechend, mit der er sonst jede kleinste Kleinigkeit notierte. Diese Tatsache stört jedoch die Vertreter der Leonardo-Hypothese nicht: Das Turiner Grabtuch sei ein Geheimprojekt gewesen, von dem niemand etwas wissen durfte.

Doch eine Camera obscura allein mit passender Linse macht noch kein Foto. Leonardo hätte sich eine Dunkelkammer bauen müssen zum Vorbereiten des Tuches. Das Tuch musste mit einer lichtempfindlichen Schicht versehen (Silbernitrat- oder Silbersulfat-Lösung) und dann in absolut dunkler Umgebung luftgetrocknet werden. Zu Leonardo's Zeiten war die Chemie noch nicht weit genug fortgeschritten, um die genauen chemischen Eigenschaften von Silbernitrat sowie dessen Lichtempfindlichkeit zu kennen. Er hätte also auch hier der heimliche Vorreiter sein müssen.

Als Modell habe Leonardo den Kadaver eines gekreuzigten Mannes benutzt, den er für die lange Belichtungszeit (Fotoexperten von heute reden von mehreren Tagen) in die Sonne hing mit entsprechender Distanz zur optisch qualitativ hochwertigen Linse seiner Camera obscura, während im Innern der Kamera / Kammer in derselben Entfernung das präparierte Leinentuch hing. Nach dem Belichten soll Leonardo dann das Foto mittels Ammoniaklösung oder Urin fixiert haben. Dann dieselbe Prozedur noch einmal für die Ablichtung der Rückseite des Kadavers. Voila: die ersten beiden Fotos der Welt auf einem Leinenstoff aus Christi Zeiten?

Diese geniale Idee mit Leonardo's Foto auf dem Turiner Grabtuch hat leider viel zu viele Haken. Dies sind die Fakten, die gegen die Hypothese sprechen:
  • Das Körperbild auf dem Grabtuch ist definitiv kein Foto. Es besteht aus nichts anderem als Dehydration (Wasserentzug) und Oxidation (Sauerstoffaufnahme) der allerobersten Faserspitzen der Flachfasern (nicht Fäden) des Gewebes sowie durch eine Art rätselhafte Karamellisation der Reste aus Waschlauge und Stärke, ebenfalls lediglich auf den alleräussersten Flachsfaserspitzen. Jeder Leinenfaden des Tuches besteht aus 70 bis 120 Fasern, und nur die dem einst im Stoff liegenden Körper zugewandten obersten Enden einzelner Fasern wurden von der Bildentstehungsursache getroffen. Die Grabtuchforscher reden vom Oberflächencharakter der Bildspuren.
  • Das Körperbild besitzt Negativcharakter, ist jedoch kein fotografisches Negativ. 1898 entdeckte der italienische Amateurfotograf Secondo Pia, der das erste Foto des Grabtuches anfertigte, dass sein Fotonegativ wie ein Positiv wirkt, denn das Bild hatte nun auf einmal Form und Tiefe, das Antlitz des Mannes auf dem Tuch war real und klar zu erkennen. Die Umkehrung der Hell- und Dunkelwerte des Körperbildes hat zwar gewisse Ähnlichkeit mit einem Fotonegativ, basiert aber auf der senkrechten Ausstrahlung der Bildentstehungsursache in Kombination mit dem jeweiligen Abstand zwischen Körper und Tuch: dem 3-D-Effekt. Der Negativcharakter einer Fotografie kommt auf ganz andere Weise zustande.
Die Hälfte des Turiner Grabtuches mit der Vorderseite des Mannes als Fotopositiv...

... und hier als Fotonegativ
  • Das Körperbild weist einen 3-D-Effekt auf. Schon kurz nach Entdeckung des Negativcharakters vermuteten Yves Delage und Paul Vignon nach eingehenden Studien der Pia-Fotos, dass die Bildintensität grösser war, je näher Körper und Tuch aneinander gelegen hatten. Diese Vermutung konnte 1974 durch einen für die Weltraumforschung entwickelten Bildanalystor bestätigt werden. Dieser Apparat - VP-8 - wurde eingesetzt für die Auswergung von Satellitenfotos, die Raumsonden von Planetenoberflächen aufnahmen. Der VP-8 registriert keine Helligkeitsgrade, sondern Entfernungen, er errechnet die dritte Dimension eines Körpers und stellt diese dann dar. Das funktioniert nur mit entsprechend aus verschiedenen Winkeln aufgenommenen und dann kombinierten Fotos, nicht aber bei einem normalen Foto, einem Fotonegativ oder einem Gemälde. Zur Verblüffung der Wissenschaftler, die aus einer Laune heraus - aber der schon wohlbegründeten Annahme um die Dreidimensionalität des Bildes - dem VP-8 ein Foto des Turiner Grabtuches eingaben, erschien auf dem Bildschirm sofort ein klares Relief eines Mannes. Für Prof. John Jackson, Physiker und Leiter der interdisziplinären Forschergruppe STURP (Shroud of Turin Research Project), stand fest: im Körperbild auf dem Tuch ist eine dreidimensionale Information enthalten, die sich aus der Tatsache ergibt, dass die Anzahl der betroffenen Flachsfaserspitzen jeweils abhängig ist vom Abstand zwischen Tuch und Körper. Dieser 3-D-Effekt wurde später von anderen Wissenschaftlern mit weiterentwickelten Verfahren und Techniken bestätigt. Dies Bildmerkmal ist auch der Grund, weshalb sich das Bild der Rückseite des Körpers nicht als Relief darstellen lässt, denn hier lag der Körper zumindest mit der Rückenpartie glatt auf dem Tuch auf. Der 3-D-Effekt schliesst aus, dass das Körperbild auf dem Turiner Grabtuch ein Foto oder ein Kunstwerk ist, denn dieses Bild setzt einen realen Körper voraus, der während der Bildentstehung im Tuch lag.
3-D-Aufnahme des Antlitzes des Turiner Grabtuches (Tamburelli)
  • Die Körperbildspuren sind überall von gleicher Stärke. Als die Grabtuchforscher erkannt hatten, dass der Verfärbungsgrad bei allen getroffenen Punkten gleich ist und dunklere Stellen nur deshalb dunkler waren, weil hier mehr Faserspitzen verfärbt waren, sprachen sie vom Pixel-Effekt. Ob Nasenspitze (mit bis ca. 1 mm Abstand vom Tuch) oder Augenhöhle (mit ca. 10 mm Abstand): überall war der Verfärbungsgrad absolut gleich, unterschiedlich war nur die Anzahl der vergilbten Faserspitzen. Je kürzer der Weg zwischen Körper und Tuch, je mehr Faserspitzen waren betroffen. Was auch immer dies für ein Prozess gewesen war, der das Bild verursachte, er war offenbar eng um den Körper begrenzt und perfekt dessen Formen angepasst gewesen. Werner Bulst sprach in diesem Zusammenhang einmal scherzhaft vom "Schneckenfühlereffekt". Wo das Tuch zu weit vom Körper entfernt war - Prof. Jackson vermutet die Grenze des Bildauslösers bei 3 1/2 bis 4 cm -, ist das Tuch völlig ohne Bildspuren. Auch beim Rückenbild, wo der Körper direkt auf dem Tuch auflag, zeigen die Bildspuren den gleichen Verfärbungsgrad wie die auf der anderen Tuchhälfte.
Bildspuren: die Nasenspitze (40fache Vergrösserung)
  • Das Körperbild ist randlos, es verliert sich allmählich im Stoff. Ein Foto aber hätte einen deutlichen Rand.
  • Das Körperbild entstand nicht mittels eines toten oder lebenden Modells, das per Fotografie abgelichtet wurde. Ein Leichnam wäre verwest, ehe alle Bilder belichtet worden wären: das der Vorderseite, das der Rückseite und noch einmal eines von der Vorderseite, aber auf der anderen Stoffseite. Dieses zartere Körperbild in der Antlitz- und Handregion auf der anderen Seite des Turiner Grabtuchs wurde erst vor wenigen Jahren entdeckt auf Fotos, die bei der Restauration des Tuches 2002 aufgenommen worden waren. Es ist absolut deckungsgleich mit dem darunterliegenden Körperbild, es hat ebenfalls Oberflächencharakter, Negativcharakter und einen 3-D-Effekt und entstand durch die gleiche unbekannte Ursache. Die Vorstellung, dass für all diese Einzelaufnahmen identische Leichname Gekreuzigter verwendt wurden, ist absurd. Ein lebendes Modell kommt auch nicht in Frage, denn nach Meinung der Chirurgen, Pathologen, Gerichtsmediziner und Anatomen unter den Grabtuchforschern war der abgebildete Körper bei der Bildentstehung definitiv tot. Der Körper befand sich im Stadium der Leichenstarre, ,die auf dem Bild vollkommen korrekt wiedergegeben ist für einen Körper, der an den Armen hängend gestorben ist. Während der Bildentstehung lag der Körper eines Gestorbenen im Tuch mit etwas angewinkelten Beinen und mit leicht nach oben gebogenem Oberkörper. Wegen dieser Liegeposition ergibt die Körperlämge von der Kopfspitze bis zu den Zehenspitzen, gemessen am Bild auf dem Tuch, einen falschen, zu kurzen Wert; die Arme wirken deshalb zu lang und die Hände liegen "schamvoll über dem Gemächt" und das Rückenbild ist etwas kürzer als das Vorderbild.
  • Das Antlitz des Körperbildes ist keine zusätzliche Extra-Aufnahme. Von Vertretern der Leonardo-Hypothese wurde wiederholt behauptet, die Vorderansicht des Kopfes sei ein Selbstportrait des Künstlers. Der Kopf passe von den Proportionen her nicht zum üblichen Körper und das Antlitz habe Ähnlichkeit mit einem bekannten Selbstportrait Leonardos. Dass der Kopf die falsche Grösse zu haben scheint, liegt an der schon erwähnten verkürzten Liegeposition mit den angewinkelten Beinen und daran, dass die Seitenpartien des Gesichtes fehlen als Folge der strikt senkrechten Ausrichtung der Bildentstehungsursache. Nach Meinung der Ethnologen und Rassenspezialisten unter den Grabtuchforschern ist der Mann auf dem Körperbild semitisch; Leonardo war kein Semite. Der Strich, den man auf dem Grabtuch sehen kann zwischen Kopf und Rumpf, rührt nicht daher, dass hier ein extra Kopfbild zugefügt wurde, sondern er ist eine alte Faltspur aus der Zeit, in der das Grabtuch so gefaltet aufbewahrt wurde, dass nur das Antlitz in einem Rahmen sichtbar war (in der Zeit, in der sich das Grabtuch als Mandylion in Byzanz befand bis Anfang des 13. Jahrunderts)
Faltung des Grabtuches in dessen Zeit als "Mandylion" bis zum 13. Jh.
  • Die Bildspuren und die Blutspuren entstanden nicht zur gleichen Zeit und nicht auf die gleiche Weise. Die Blutspuren entstanden vor den Bildspuren durch echtes menschliches Blut der Gruppe AB. Die Ärzte unter den Grabtuchforschern konnten eindeutig venöses von artiellem Blut unterscheiden sowie Blut, das schon am Körper entlanggeflossen war, als der Mann noch lebte, und postmortales Blut, das erst nach seinem Tod austrat (vor allem an den Nagelwunden, offenbar aufgrund des Entfernens der Nägel) - alles in allem Blut aus verschiedenen Perioden über einen Zeitraum von gut zwölf Stunden. Die Flecken stellen einen authentischen Blutfluss dar eines Menschen mit folgenden Wunden: Nagelwunden an Händen und Füssen, Dornenwunden an Kopf und Stirn, Seitenwunde zwischen fünfter und sechster Rippe, Geisselungswunden, Gürteldornwunden in der rückwärtigen Hüftgegend (erst jüngst auf dem Körperbild identifiziert) sowie etliche kleinere Wunden. Die dazugehörigen Blutspuren befinden sich an den richtigen Körperbildstellen mit wenigen Ausnahmen, wo das Tuch im Augenblick der Bildentstehung sich offenbar glättete und an den Seiten leicht hochbauschte, von seitlichen Körperpartien weg; darum verrutschten z.B. die Blutspuren von den Gesichtsseiten in die abgebildete Haarzone des Mannes.
  • Die Bildspuren entstanden erst nach den Blutspuren. Leonardo hätte die Fotos der Vorderseite des Mannes, der Rückenseite des Mannes und noch einmal der Vorderseite des Mannes auf der anderen Tuchseite perfekt passgenau auf die Blutflecken platzieren müssen. Das ist nach Ansicht nicht nur der Fotoexperten unter den Grabtuchforschern absolut unmachbar. Nach der Bildentstehung drang kein Blut mehr in den Stoff ein. Der Körper des Mannes muss das Tuch verlassen haben, ohne die Blutflecken im geringsten zu verschmieren oder zu beschädigen, ein Umstand, für den noch kein Wissenschaftler bislang eine beweisbare Erklärung hat.
Blutspuren auf dem Linnen
  • Last but not least genügt ein einziger Blick in ein beliebiges Lexikon, um zu sehen, dass Leonardo da Vinci das Turiner Grabtuch gar nicht hergestellt haben kann, da er zur falschen Zeit lebte. Die lückenlose schriftliche Dokumentation des Grabtuches beginnt mit der öffentlichen Ausstellung dieser Reliquie im Jahr 1357 (nach anderer Quelle 1355) in der Stiftskirche zu Lirey in Frankreich - ein Datum, das gut hundert Jahre vor der Geburt des Leonardo liegt. Die historische Rekonstruktion des Grabtuches reicht jedoch noch sehr viel weiter zurück:
  • 1204: In diesem Jahr plünderten christliche Kreuzfahrer Konstantinopel. Neben zahlreichen anderen begehrten Reliquien verschwand auch ein Grablinnen Christi, das in der Pharoskapelle als "Mandylion" seit 944 aufbewahrt wurde und das aus Edessa stammte.
  • 1203: In diesem Jahr schrieb der Kreuzritter Robert de Clari über das Grabtuch, "in das Unser Herr gewickelt war, das jeden Freitag ausgebreitet wird, so dass die Gestalt Unseres Herrn darauf gesehen werden konnte".
  • 1202: Aus diesem Jahr gibt es eine Aussage des Nicholas Mesarites, der als Wächter der Reliquien in der Pharoskapelle tätig war, in der er von Christi Begräbnistüchern und dessen dargestellter Nacktheit redet.
  • 1192 - 1195: Aus dieser Zeit (also gut 150 Jahre vor Leonardo's Geburt) stammt der sog. Pray Codex, eine Handschrift der Budapester Nationalbibliothek, mit fünf Illustrationen. Eine davon ist ein Doppelbild, das einmal die berühmte Szene der Frauen an Jesu leerem Grab zeigt und darüber die Grablegung Christi. Dass dem Illustrator das Turiner Grabtuch bekannt gewesen sein muss, zeigen folgende Details: eine vereinfachte, doch klar erkenntliche Wiedergabe des Fischgrätmusters, die regelmässigen Brandlöcher (die nichts mit dem Brand von 1532 in Chambéry, Frankreich, zu tun haben und viel älter sind), die Hände des dargestellten Christus auf dem Tuch liegen genau so wie auf dem Körperbild des Turiner Grabtuches, scheinen unnatürlich lang und zeigen ebensowenig die Daumen (eine Folge des Schlagens des Nagels durch den Handwurzelknochen, was eine Lähmung des Daumens und dessen Lage innerhalb des Handtellers bewirkt), und auch die berühmte Blutspur auf der Stirn (schon lange vorher auf byantinischen Christusbildern als Stirnlocke fehlinterpretiert und dargestellt) ist zu sehen. All diese Details können nicht der Phantasie des Illustrators entstammen, sie orientieren sich am Turiner Grabtuch.
Eine Illustration des sog. Pray Codex von ca. 1192

Die regelmässigen Brandlöcher, wie sie auf dem Pray Codex zu sehen sind
  • 943: In diesem Jahr wurde Edessa, eine Stadt in der heutigen Türkei, die erst unter römische, dann unter arabische Herrschaft geraten war, von der byzantinischen Armee belagert. Die Araber und die christlichen Bewohner der Stadt kamen in arge Bedrängnis. Die Byzantiner versprachen, die Stadt zu schonen, 200 muslimische Gefangene freizulassen sowie die Zahlung von 12.000 Silberkronen, wenn man ihnen dafür das heilige Tuchbild, das Mandylion, aushändige. Die Byzantiner planten, die berühmte Reliquie mit nach Konstantinopel zu nehmen zum Fest des 100. Jahrestages der Orthodoxie, an dem der Sieg über die Bilderfeinde gefeiert werden sollte. Die Verhandlungen um das Tuchbild zogen sich monatelang hin. Der Gegenstand galt auch bei den Arabern als heilig, und von ihnen stammte die Bezeichnung "mandil" (= Handtuch), aus dem dann Mandylion wurde. Schliesslich gab die versprochene Befreiung der gefangenen Muslime den Ausschlag, und es kam zur Übergabe. Im Jahr 944 wurde die heilige Reliquie von Edessa nach Konstantinopel überführt, nachdem die Träger derselben vor der aufgebrachten Menge christlicher und arabischer Edessa-Bürger auf ein Schiff fliehen mussten, worauf sie mit der kostbaren Beute davonsegelten. In Konstantinopel wurde das Mandylion triumphal empfangen, mit einer festlichen Prozession durch die Stadt getragen, dann bekam es einen Ehrenplatz in der Pharoskapelle, einem alten "Fort Knox" für Reliquien.
  • 525: Das Mandylion war in Edessa bei Aufräum- und Reparaturarbeiten nach der grossen Überschwemmung dieses Jahres, die gut 30.000 Menschen das Leben gekostet hatte, in einer zugemauerten Nische in der Stadtmauer aufgefunden worden. Fortan in einem silbernen Schrein aufbewahrt, galt es als das Tuchbild, das laut alter Dokumente Jesus Christus selbst dem Stadtkönig Abgar V. (9 - 46 n.Chr.) hatte überbringen lassen. Als im Jahr 57 dessen Sohn auf den Thron folgte in einer Zeit der Bilderstürmer und Christenverfolgung, könnte das Tuch in der Nische verborgen worden sein, um der Vernichtung zu entgehen.
Auffinden des Mandylion in Edessa
Sind das Mandylion und das Turiner Grabtuch identisch? Diese Fakten sprechen für eine Identität:
  • Das Mandylion war auch bekannt unter der Bezeichnung Tetradiplon = Vierdoppeltes. Es war, wohl um seine Natur als unreines Begräbnislinnen zu verbergen, so gefaltet worden, dass nur noch das Antlitz zu sehen war. Dazu musste es in acht Schichten gefaltet werden = vierdoppelt. Prof. John Jackson hat inzwischen mit modernsten Verfahren die Spuren alter Faltungen des Tuches nachgewiesen, die genau denen entsprechen, wie sie für ein "vierdoppelt" gefaltetes Linnen sein müssten. Faltet man das Turiner Grabtuch auf diese Weise, kommt das Antlitz genau in die Mitte einer Faltfläche zu liegen, die das gleiche Querformat hat, wie die Kopien des Mandylions, die stets nur ein Antlitz zeigten.
  • Fremdmaterialien auf dem Turiner Grabtuch belegen diese rekonstruierte Geschichte der Reliquie: Es fanden sich Blütenpollen aus genau den Ländern und Orten auf dem Gewebe, die die Historiker als Aufenthaltsorte des Turiner Grabtuches ermittelten: Naher Osten, Kleinasien, Frankreich und Italien. Etliche Pollen sind typisch für den Raum um Edessa, etliche für die Region um Konstantinopel (eine Art wächst überhaupt nur dort), etliche für die Flora in und um Jerusalem.

Die Hypothese, dass Leonardo da Vinci der Hersteller des Turiner Grabtuches war, ist unhaltbar und müsste eigentlich längst abgehakt sein. Doch immer wieder taucht sie erneut in den Massenmedien auf - unlängst gleich mehrere Male in TV-Sendungen der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten. Viele Argumente dieser Hypothese wurden bereits mit einer ganzen Anzahl seriöser wissenschaftlicher Fachartikel widerlegt, die kaum Beachtung fanden, da sie nicht in der Yellow Press erschienen.

Die Grabtuchforscher stört das übrigens wenig; sie arbeiten in aller Stille weiter, denn noch weiss niemand, wie das Körperbild auf dem Turiner Grabtuch entstanden ist. Eine plausible Bildentstehungsthreorie muss alle Bildmerkmale erklären können: den Oberflächencharakter der Bildspuren, den Negativcharakter, den 3-D-Effekt, die Wasserresistenz und die Hitzebeständigkeit der Bildspuren, das zartete und absolut deckungsgleiche Körperbild auf der anderen Tuchseite, das Fehlen von Bildspuren der Seitenpartien des Körpers, das Verrutsch-Sein der Bildspuren von den seitlichen Wangenpartien in die Haarzone des Bildes, den Röntgenstrahlen-Effekt des Bildes im Bereich der Zähne und einiger Knochen - um nur die wichtigsten zu nennen.

Bisher hat noch keine einzige Hypothese die Entstehung des Körperbildes mit Erfolg erklären können. Wer weiss, vielleicht bringt eine zukünftige Bildentstehungstheorie auch gleichzeitig eine Lösung für das 2000 Jahre alte Rätsel um das verschlossene und dennoch leere Grab Christi? Die Lieblingstheorie einiger Physiker scheint zumindest in diese Richtung zu verweisen: das Bild entstand durch eine eng um den Körper beschränkte unbekannte Strahlung von extrem kurzer Dauer, die das Tuch im selben Moment in die plötzlich leere Körperzone hinabfallen liess (in diesem Fall ist die senkrechte Richtung der Strahlung eine Folge der Schwerkraft, und die fehlenden Seitenpartien des Körpers auf dem Bild resultieren darin, dass das Tuch sich beim Herabsinken an den Seiten hochbauschte). Die Grabtuchforschung wird so spannend weitergehen, wie sie begonnen hat...

Literatur:

Allen Nicholas: Verification of the Nature nd Causes of the Photo-negative Image on the Shroud of Lirey-Chambery-Turin. 1955 www.petach.ac.za/shroud/nature.htm

Benford, Sue M.: Negativity and the Shroud. In: The Holy Shroud Guild Newsletter. Dezember 1997

Benford, Sue M. / Joseph G. Marino: The Shroud of Turin: Bridge Between Heaven and Earth? In: The Journal of Religion and Psychical Research. Vol. 22, Nr. 2, April 1999

Ermel, Gisela: Auferstehung oder Teleportation? Greiz 2003

Fanti, Giulio / Roberto Maggiolo: The Double Superficiality of the Frontal Image of the Turin Shroud. In: Journal of Optics: A Pure and Applied Optics. Nr. 6, 2004

Jackson / Jumper / Ercoline: Three Dimensional Characteristics of the Shroud Image. IEEE 1982 Proceedings of the International Conference on Cybernetics and Society. Oktober 1982

Picknet, Lynn / Clive Prince: The Turin Shroud: In Whose Image? New York 1994

Rogers, Raymond N.: Studies on the Radiocarbon Sample from the Shroud of Turin. In: Thermochimica Acta, Vol. 425, Nr. 1 - 2, 20. Januar 2005

Schwortz, Barrie: is the Shroud of Turin a Medieval Photograph? A Critical Examination of the Theory. 2000. wwwshroud.com

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Gisela Ermel:
Auferstehung oder Teleoportation?
König Verlag, Greiz 2003
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